Auf der Weltbühne ist das Schicksal der Souffleur, der das Stück
ruhig und leise abliest, ohne Gebärden, ohne Deklamation und ganz unbekümmert,
ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel ist. Das Zappeln, das Schreien und
übriges tun die Menschen dazu.
Ludwig Börne (1, 37), Das Staatspapier des Herzens
Was aber die Leute gemeiniglich das Schicksal nennen, sind meistens nur ihre
eigenen dummen Streiche.
Arthur Schopenhauer (4, Bd. IV: 566), Parerga und Paralipomena
I
Im Himmel ist alles Wonne, in der Hölle alles Jammer, in der Welt, als
dem mittleren, das eine und das andere. Wir stehn zwischen zwei Extremen und
sind daher beider teilhaft. Das Schicksal wechselt: alles soll nicht Glück
noch alles Mißgeschick sein. Die Welt ist eine Null: für sich allein
gilt sie nichts, aber, mit dem Himmel in Verbindung gesetzt, viel. Gleichmut
bei ihrem Wechsel ist vernünftig, und Neuheit nicht die Sache des Weisen.
Unser Leben verwickelt sich in seinem Fortgang wie ein Schauspiel und entwickelt
sich zuletzt wieder: daher sei man auf das gute Ende bedacht.
Balthasar Gracián (1, Nr. 211), Handorakel und Kunst
der Weltklugheit
Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser
Schicksal aus.
Marie von Ebner-Eschenbach (1, 24), Aphorismen
Das Schicksal gibt dem Menschen oft den
Wundbalsam früher als
die
Wunde:
Jean Paul (7, 515), Hesperus
Die interessantesten Zeiten des Menschendaseins sind nicht die, in welchen
man sich der Illusion hingibt, sein Leben selbst führen zu können,
nach rechts oder links abzuweichen, zu beharren oder aufzugeben, sondern die,
in denen man den Flügelschlag des Schicksals deutlich über seinem
Kopf rauschen hört. Und trotz aller möglichen Unruhe und Aufregung
sind die letztern auch, so paradox es klingen mag, die normalen.
Wilhelm Raabe (1, 983), Notizen und Lebensrückblick
Die Menschen bewohnen und bewegen das große Tretrad des Schicksals und
glauben darin, sie
steigen, wenn sie
gehen....
Jean Paul (5), Die unsichtbare Loge: Ausläuten
Die Menschen werfen alle ihre Dummheiten auf einen Haufen, konstruieren ein
Ungeheuer und nennen es Schicksal.
Thomas Hobbes
Der Mensch sieht nur das Spinnrad des Schicksals, aber nicht die Spindel;
daher sagt er: seht ihr nicht den ewigen, leeren Kreislauf der Welt?
Jean Paul (6, II.), Museum: Sedez-Aufsätze, Das Welt-Rätsel
Haben wir das Schicksal? Sind wir frei? Wie ärgerlich, das nicht zu wissen!
Wieviel Ärger aber erst, wüßten wir es.
Jules Renard (1, 17), Tagebuch, 14. Juni 1889
Ist es wahr, dass wir alle auf Erden abhängig wandeln, und ungewiss der
Zukunft? dass ein dichter Schleier dem Menschen, was er sein wird, verbirgt,
und dass des Schicksals blinde Macht [...] mit unsern Entschlüssen wie
mit unseren Wünschen spielt? O freilich, wenn Entschlüsse nur Wünsche
sind, so ist der Mensch des Zufalls Spiel! Wenn er nur im Wechsel flüchtiger
Empfindungen und einzelner Gedanken [...] sich selbst zu finden weiss; wenn
er im ungewissen Haben äusserer Gegenstände, im schwindelnden Betrachten
des ewigen Wirbels [...] sein ganzes Leben hindurch begriffen ist, und niemals
tiefer in sein eigenes Wesen dringt; wenn er [...] immer nur Einzelnes und
Aeusseres sieht und betreiben und besitzen will, wie ihm die Empfindung des
Augenblicks gebietet: dann kann ihm das Schicksal feindselig rauben, was er
begehrt [...]. Denn schrecklich muss es den Menschen ergreifen, wenn er nimmer
dazu gelangt sich selbst zu fassen; wenn jeder Lichtstrahl, der in die unendliche
Verwirrung fällt, ihm klarer zeigt, er sei kein freies Wesen, sei eben
nur ein Zahn in jenem grossen Rade, das ewig kreisend sich, ihn und alles
bewegt. Nur Hoffnung, immer wieder aller Erfahrung, allem Bewusstsein zum
Trotz erneute Hoffnung auf glücklichen Wechsel oder auf endliches Erbarmen
muss seine einzige Stütze sein.
Friedrich Schleiermacher (1, 67f), Monologen
Klage nicht zu sehr über einen kleinen Schmerz; das Schicksal könnte
ihn durch einen größeren heilen!
Friedrich Hebbel (1, [5539]), Tagebücher 1848-1863
Das Weh der Welt ist aber nicht wie ein Brot bestimmter Größe,
je mehr davon essen sollten, desto kleiner müssen die Teile werden. Nein,
es wächst mit jedem neuen Gast, es ist immer in Überfluß auf
dem Tisch und kämen auch immer wieder neue Millionen hinzu. Tragen helfen!
auch so eine Illusion, mit der die große Hoffnungslosigkeit verborgen
werden soll. Jeder trägt, was schon mit ihm in der Wiege lag, was mit
ihm selbst gewachsen ist, trägt, weil es eben nicht anders geht. Und
vor, neben und hinter ihm stehen unabsehbare Reihen von Wesen, die auch alle
tragen, jedes seine Last. In Wahrheit abnehmen kann keiner dem andern etwas,
so daß der wirklich frei aufatmete - wir können nur zum eigenen
Leid uns noch das des anderen hinzudenken - mit ihm mitleiden.
Elisabeth von Heyking (1, 43.), Briefe, die ihn nicht erreichten:
New York, den 21. Juni 1900
Wenn du kein Vertrauen in die gütige Macht hast, die über dir waltet,
sondern nur an ein diamanthartes Schicksal glaubst, das Natur und Menschen
in seinen dunklen Mantel hüllt, dann bedenke, daß der beste Gebrauch,
den du vom Schicksal machen kannst, der ist, den Mut zu lernen, und sei es
auch deshalb, weil Feigheit an dem vorbestimmten Ausgang nichts zu ändern
vermag. [...] wenn dein Skeptizismus den äußersten Schritt tun
sollte und du kein Vertrauen zu irgend einem fremden Geist mehr hast, gerade
dann mußt du doppelt tapfer sein, denn es gibt
eine gute Meinung,
die für dich immer gewichtig ist, nämlich deine eigene.
Ralph Waldo Emerson, Courage
Alles, was geschieht, ist vor langer Zeit bestimmt worden. Ehe ein Mensch
auf die Welt kommt, steht schon fest, was aus ihm wird. [...] Überhaupt,
wer kann schon sagen, was für den Menschen gut ist während seines
kurzen, sinnlosen Lebens, das so flüchtig ist wie ein Schatten? Und wer
kann ihm sagen, was nach ihm auf dieser Erde geschehen wird?
Die Bibel (1, 602), Kohelet 6,10-12
Noch ist nichts bestimmt, und alles möglich - Noch spielt die Hand, mutwillig
zögernd, mit den Losen in der Urne des Schicksals, welche auch das große
enthält - warum sollte sie es nicht fassen können? Sie säumt
und säumt, indem schon die bloße Möglichkeit fast ebenso wollüstig
ist, wie die Wirklichkeit - Indessen spielt ihr das Schicksal einen Zettel
unter die Finger - es ist nicht das große Los, es ist keine Niete, es
ist ein Los, wie es Tausende schon getroffen hat, und Millionen noch treffen
wird.
Heinrich von Kleist (1, 050), Brief an Adolfine von Werdeck:
28. Juli 1801
O Mensch, suche dein wahres Glück in dir selbst, und du wirst dich nicht
mehr elend fühlen! Halte an dem Platz aus, den dir die Natur in der Kette
anweist, dann wird nichts dich aus demselben zu entfernen vermögen. Sträube
dich nicht gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit und erschöpfe nicht
im törichten Versuch, ihr Widerstand entgegenzusetzen, die Kräfte,
die dir der Himmel nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Erhaltung deines
Daseins, wie es ihm gefällt und so lange es ihm gefällt, gegeben
hat. Deine Freiheit und deine Macht erstrecken sich nur über das Gebiet
deiner natürlichen Kräfte und nicht darüber hinaus, alles übrige
ist nur Sklaverei, Illusion, Blendwerk.
Jean-Jacques Rousseau (2, Bd. 1: 111), Emil oder über
die Erziehung
Du wirst einsehen lernen daß jeder Mensch der Schöpfer seines eigenen
Glücks ist, und meistens ungerechter Weise das Schiksal anklagt. Wer
im Stande ist den Zwek seiner Bestimmung und seines Lebens einzusehen, und
daher
einig mit sich selbst ist, dem können die widerlichen wie
die glüklichen Zufälle des Lebens nur zur weiteren Ausbildung und
Beruhigung führen.
Carl Maria von Weber (1, 407), Brief an Caroline Brandt:
Dresden, 9. Juni 1817
Die Verschwendung der Natur ist zu groß. Und das ist das Bitterste:
Unsere anklagenden Gedanken, und seien sie noch so erhaben, sind nur wie
namenlose gleichgültige Vögel, die gegen ein kristallumpanzertes
Feuer prallen, um ohnmächtig und ruhmlos in die Nacht hinabzufallen,
vertan, verschwendet wie das Wesen das sie gebar.
Christian Morgenstern (2), Stufen. Natur, 1905
Die meisten Menschen sind offenbar
zufällig auf der Welt: es zeigt
sich keine Notwendigkeit höherer Art in ihnen. Sie treiben dies und das,
ihre Begabung ist mittelmäßig. Wie sonderbar! [...] eine rührende
Bescheidenheit der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen, unseresgleichen
zu nützen und zu dienen, und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar
auch; und so dient jeder dem anderen, keiner hat seinen Beruf, seiner selbst
wegen da zu sein, sondern immer wieder anderer wegen; so haben wir eine Schildkröte,
die auf einer anderen ruht und diese wieder auf einer und so fort. Wenn jeder
seinen Zweck in einem anderen hat, so haben
alle keinen Zweck an sich,
zu existieren; und dies
>>für einander
existieren<< ist komischste Komödie.
Friedrich Nietzsche (10, 3[64]), Nachlass: Fragmente März
1875
Wer aber [...] gesehen hat, daß überall und seit unendlichen Zeit
Millionen und Millionen geboren und begraben werden, ohne daß ihr Kommen
und Gehen mehr Bedeutung hätte als Mückenschwärme, die einen
Augenblick durch die Sonnenstrahlen schweben, der verliert den Glauben an
die Wichtigkeit der Erscheinungen und an die innere Notwendigkeit der ewigen
Fortdauer all dieser ganz gleichgültigen ameisenartigen Existenzen, die
in individuell kaum unterscheidbaren Wiederholungen immer aufs neue entstehen
und vergehen. Wenn einem dann die Erkenntnis aufgeht, daß man selbst
auch nur in die Schar der menschlichen Eintagsfliegen gehört, dann sehnt
man sich nach denen, die durch Freundschaft und liebevolle Pflege uns zeitweise
die Illusion geben, als sei man eigentlich doch eine recht wichtige kleine
Fliege, deren Wohl und Wehe für eine anderes Wesen die allergrößte
Bedeutung hat.
Elisabeth von Heyking (1, 17.), Briefe, die ihn nicht erreichten:
New York, 1. Januar 1900
Ergeben wir uns in das Schicksal, das uns spottet und uns fortreißt.
Leben wir solange und so gut wir können. [...] In Wahrheit hängt
nichts von uns ab, denn wir sind Uhren, Maschinen.
Voltaire (3, 39), Aphorismen und Gedankenblitze
Ich kann mir die gegenwärtige Lage der Menschheit schlechthin nicht denken
als diejenige, bei der es nun bleiben könne; schlechthin nicht denken
als ihre ganze und letzte Bestimmung. Dann wäre alles Traum und Täuschung;
und es wäre nicht der Mühe wert, gelebt, und dieses stets wiederkehrende,
auf nichts ausgehende, und nichts bedeutende Spiel mitgetrieben zu haben.[...]
Ich äße nur und tränke, damit ich wiederum hungern und dürsten,
und essen und trinken könnte, so lange, bis das unter meinen Füßen
eröffnete Grab mich verschlänge, und ich selbst als Speise dem Boden
entkeimte? Ich zeugte Wesen meines Gleichen, damit auch sie essen und trinken,
und sterben, und Wesen ihres Gleichen hinterlassen könnten, die dasselbe
tun werden, was ich schon tat? Wozu dieser unablässig in sich selbst
zurückkehrende Zirkel, dieses immer von neuem auf dieselbe Weise wieder
angehende Spiel, in welchem alles wird, um zu vergehen, und vergeht, um nur
wieder werden zu können, wie es schon war; dieses Ungeheuer, unaufhörlich
sich selbst verschlingend, damit es sich wiederum gebären könne,
sich gebärend, damit es sich wiederum verschlingen könne?
Nimmermehr kann dies die Bestimmung sein meines Seins, und alles Seins. Es
muß etwas geben, das da ist, weil es geworden ist; und nun bleibt, und
nimmer wieder werden kann, nachdem es einmal geworden ist; und dieses Bleibende
muß im Wechsel des Vergänglichen sich erzeugen, und in ihm fortdauern,
und unversehrt fortgetragen werden auf den Wogen der Zeit.
Johann Gottlieb Fichte (1, Bd. 2: 265f), Die Bestimmung
des Menschen: Drittes Buch - Glaube
Und daß es die Welt ist, in die man fällt, unter Sterne, zu Mädchen,
Kindern, Hunden und Abfällen, daß es nichts Unklares giebt in den
Verhältnissen, in die man geraten kann; zwar zu Großes oder zu
Böses, zu Listiges oder einfach Verhängnisvolles; aber man hat es
entweder mit anderen Würfeln zu tun, oder mit den Würfen, mit den
Geistern, die die Becher schütteln und ein Ihriges wagen dabei. Es ist
ein lauteres Spiel, unabsehlich und immer neu aufgenommen, über einen
hinaus, aber doch so, daß keiner in keinem Augenblick wertlos sei, oder
schlecht oder schmählich; denn wer kann dafür, daß er so oder
so aus dem Becher fällt?
Rainer Maria Rilke, Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 2.
April 1924
Ja, wahrlich, wenn man überlegt, daß wir ein Leben bedürfen,
um zu lernen, wie wir leben müßten, daß wir selbst im Tode
noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand den Zweck seines
Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht,
sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen, wenn
man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt - - kann Gott von
solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern? [...] Tausendfältig verknüpft
und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von
Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten - Sage mir,
wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse
wäre in alle Ewigkeit fort -? Und was uns auch die Geschichte von Nero,
und Attila, und Cartouche, von den Hunnen, und den Kreuzzügen, und der
spanischen Inquisition erzählt, so rollt doch dieser Planet immer noch
freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge wiederholen sich,
und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie vor. - Ja, tun,
was der Himmel sichtbar, unzweifelhaft von uns fordert, das ist genug - Leben,
so lange die Brust sich hebt, genießen, was rundum blüht, hin und
wieder etwas Gutes tun, weil das auch ein Genuß ist, arbeiten, damit
man genießen und wirken könne, andern das Leben geben, damit sie
es wieder so machen und die Gattung erhalten werde - und dann sterben - Dem
hat der Himmel ein Geheimnis eröffnet, der das tut und weiter nichts.
[...] Genießen! Das ist der Preis des Lebens! Ja, wahrlich, wenn wir
seiner niemals froh werden, können wir nicht mit Recht den Schöpfer
fragen, warum gabst Du es mir? Lebensgenuß seinen Geschöpfen zu
geben, das ist die Verpflichtung des Himmels; die Verpflichtung des Menschen
ist es, ihn zu verdienen. Ja, es liegt eine Schuld auf den Menschen, etwas
Gutes zu tun [...].
Heinrich von Kleist (1, 051), Brief an Wilhelmine von Zenge:
15. August 1801
Sind wir geköderte Forellen? Sind wir die Hanswürste der Natur?
[...] Wenn wir unsere beschränkte Kraft an der ihrigen messen, so können
wir leicht auf den Gedanken kommen, daß ein übermütiges Schicksal
mit uns ein Spiel treibt. Aber die Würfel mögen fallen, wie sie
wollen, sie fallen zu unseren Gunsten. In der Natur gibt es keinen Bankrott,
keinen Sprung, keinen Fehlschuß. Weisheit schlummert in jeder Lebensform,
aber wir erfassen ihren Sinn immer erst lange, lange nachher.
Ralph Waldo Emerson, Nature
Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen.
Arthur Schopenhauer (4, Bd. IV: 559), Parerga und Paralipomena
I
Unsre Lebensalter sind die Lebensalter der Pflanze: wir gehen auf, wachsen,
blühen, blühen ab und sterben. Ohn unsern Willen werden wir hervorgerufen,
und niemand wird gefragt, welches Geschlechts er sein, von welchen Eltern
er entsprießen, auf welchem Boden er dürftig oder üppig fortkommen,
durch welchen Zufall endlich von innen oder von außen er untergehen
wolle. In alle diesem muß der Mensch höhern Gesetzen folgen, über
die er sowenig als die Pflanze Aufschluß erhält, ja denen er beinah
wider Willen mit seinen stärksten Trieben dienet. Solange der Mensch
wächst und der Saft in ihm grünet, wie weit und fröhlich dünkt
ihm die Welt! Er streckt seine Äste umher und glaubt zum Himmel zu wachsen.
So lockt die Natur ihn ins Leben hinein, bis er sich mit raschen Kräften,
mit unermüdeter Tätigkeit alle die Fertigkeiten erwarb, die sie
auf dem Felde oder Gartenbeet, auf den sie ihn gesetzt hat, diesmal an ihm
ausbilden wollte. Nachdem er ihre Zwecke erreicht hat, verläßt
sie ihn allmählich. In der Blütenzeit des Frühlings und unsrer
Jugend, mit welchen Reichtümern ist allenthalben die Natur beladen! Man
glaubt, sie wolle mit dieser Blumenwelt eine neue Schöpfung besamen.
Einige Monate nachher, wie ist alles so anders! Die meisten Blüten sind
abgefallen; wenige dürre Früchte gedeihen. Mit Mühe und Arbeit
des Baumes reifen sie, und sogleich gehen die Blätter ans Verwelken.
Der Baum schüttet sein mattes Haar den geliebten Kindern, die ihn verlassen
haben, nach; entblättert steht er da; der Sturm raubt ihm seine dürren
Äste, bis er endlich ganz zu Boden sinket und sich das wenige Brennbare
in ihm zur Seele der Natur auflöset. Ist's mit dem Menschen, als Pflanze
betrachtet, anders?
Johann Gottfried Herder (4, 56f), Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit
Niemand ist dafür verantwortlich, daß er überhaupt da ist,
daß er so beschaffen ist, daß er unter diesen Umständen,
in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen
aus der Fatalität all dessen, was war und was sein wird.
Friedrich Nietzsche (1, 8.), Götzendämmerung:
Die vier großen Irrtümer
Der Mensch [...] kommt nicht zur Welt, um sich des Lebens zu freuen, sondern
nur um den Fortgang des Lebens zu sichern, um es anderen, die auf ihn folgen,
weiterzugeben, um es zu erhalten. Weder er selbst noch das Leben noch sonst
irgend etwas auf Erden ist eigentlich für ihn da, sondern er ist im Gegenteil
nur für das Leben da. [...] Die Seienden sind da, weil man da ist, der
einzelne Seiende kommt zur Welt und ist da, auf daß man weiterhin da
sei und das Dasein in ihm und anderen nach ihm erhalten bleibe.
Giacomo Leopardi (1, 536), Das Gedankenbuch
Wenn ich die kurze Dauer meines Lebens betrachte, das von der vorhergehenden
und der darauffolgenden Ewigkeit aufgesogen wird [...] und den kleinen Raum,
den ich ausfülle, und den ich noch dazu von der unendlichen Unermeßlichkeit
der Räume verschlungen sehe, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen,
so gerate ich in Schrecken und erstaune, mich eher hier als dort zu sehen,
denn es gibt keinen Grund, warum es hier als dort ist, warum jetzt und nicht
viel früher. Wer hat mich dorthin gebracht? Durch wessen Gebot und Führung
sind dieser Ort und diese Zeit mir bestimmt worden?
Blaise Pascal (1, Pensèe 68), Gedanken
Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist
alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt
in
ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert.
Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb allen
Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig.
Was es nichtzufällig macht, kann nicht
in der Welt liegen, denn
sonst wäre dies wieder zufällig. Es muß außerhalb der
Welt liegen.
Ludwig Wittgenstein (6.41), Tractatus logico-philosophicus
Wozu die Menschen da sind, wozu "der Mensch" da ist, soll uns gar
nicht kümmern: aber wozu Du da bist, das frage dich: und wenn Du es nicht
erfahren kannst, nun so stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe
an ihnen zu Grunde! Ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und
Unmöglichen zu Grunde zu gehen: animae magnae prodigus.
Friedrich Nietzsche (10, 29[54]), Nachlass: Fragmente Sommer-Herbst
1873